Diese Geschichte erzählt von Maria, die Weihnachten nicht mehr feiern kann.
Eine traurige Weihnachtsgeschichte?
Erschienen ist diese Geschichte in der Anthologie "Es weihnachtet sehr" (EPLA-Verlag, 2009)
Maresi Strommer: "Maria hat es wirklich gegeben. Sie war 'nur' eine Frau von nebenan, dennoch begleitete sie mich mit ihrer Liebe durch meine ganze Kindheit."
Maria blickt in den Garten. Er ist still, der Garten, still und blumenleer. Die Bäume haben sich mit Raureif geschmückt, und zarte Spinnweben schweben gleich silbernen Gondeln zwischen Ästchen und Zweigen.
Vor langer Zeit, sinnt Maria, vor langer Zeit hatte sie in einen anderen Garten geblickt, in ihren Garten. Blumenbunt war er gewesen und voller Kinderlachen. Kinderlachen? Welche Kinder? Wo waren sie? Gab es denn überhaupt noch Kinder auf dieser Welt? Suchend schweifen Marias Augen durch den stillen Garten, doch sie erblickt nur die Krähen, diese Wintervögel, wie sie düster in den entlaubten Kronen der Bäume hocken. Allmählich beginnt Dunkelheit in den Garten zu tropfen, tropft über die entlaubten Kronen der Bäume, tropft über die silbernen Gondeln, tropft über die düsteren Krähen und über die blumenleere Wiese, lässt alles zu Schemen werden, die immer mehr verschatten, bis sie sich gänzlich ins Nachtdunkel hinein auflösen.
Jetzt senkt das Dunkel sich auch auf Marias Augenlider und drückt sie auf ihre Wangen nieder. Maria sinkt auf ihr Lager zurück und denkt an den großen Christbaum, der in einer Ecke des Speisesaales steht, und aus dessen grünen Zweigen ungezählte Lichtpunkte aufblitzen, die sich wiederum in glitzernden Kugeln spiegeln. Am Heiligen Abend hatte eine der Pflegerinnen sie mit dem Rollstuhl zu dem Christbaum geschoben und zu den anderen alten Leuten gestellt, die müde waren und einsam wie sie. Aus einem Kassettenrecorder ertönte das Lied „Stille Nacht“, und Maria brach in Tränen aus, denn all ihre Nächte waren still und auch ihre Tage. Maria wollte nicht Weihnachten feiern, und so brachte die Pflegerin sie wieder auf ihr Zimmer zurück.
Jetzt, da die Dunkelheit die Augenlider auf ihre Wangen drückt, jetzt also denkt Maria wieder an den Christbaum, der in einer Ecke des Speisesaales steht und aus dessen grünen Zweigen ungezählte Lichtpunkte aufblitzen, die sich wiederum in glitzernden Kugeln spiegeln und erneut bricht sie in Tränen aus, denn das Weihnachtsfest war ihr gestohlen worden, vom Tod gestohlen worden, vor langer, langer Zeit.
Weihnachten. Man feierte die Geburt des Christkindes. Ihr Kind aber war gestorben, drei Tage nach dem Heiligen Abend war es gestorben, am Tag der Unschuldigen Kinder, nicht durch die Häscher des Königs Herodes, sondern durch die Tücke einer Krankheit. Es ist ihr, als spürte sie jetzt wieder die kleine, heiße Hand in der ihren und als blickte sie noch ein Mal in die Fieber glänzenden Augen ihres Kindes, das um das Leben ringt und schließlich nur noch eines will, den Lichter strahlenden Christbaum sehen, und als Maria das letzte Kerzlein entzündet hat, da erlischt das Lebenslicht ihres Kindes.
Maria schreit auf im Schmerz der Erinnerung und die längst verheilt geglaubte Liebeswunde beginnt erneut zu bluten.
Da eröffnet sich plötzlich das Dunkel gleich einem riesigen Tor, und aus seiner Tiefe strahlen Lichtpunkte auf, ungezählte Lichtpunkte, nein, Sterne, ungezählte Sterne, und sie singen wie feine Glöckchen, stille Nacht, heilige Nacht, und aus dem wundersam singenden Sternen tritt das Kind hervor, ihr Kind. Es sieht Maria liebevoll an und beugt sich zärtlich zu ihr hinab. Ich bringe dir den Himmel, Mama, spricht es und küsst sie.